Über 600.000 Arbeitsplätze in Deutschland und
Großbritannien sind unmittelbar vom Brexit betroffen
Nach einem Brexit wird sich viel ändern – unter anderem im Steuer- und
Gesellschaftsrecht, beim Warenverkehr und beim Datenschutz. Um die Folgen
abzuschätzen, braucht man aber keinen „Blick in die Glaskugel“, denn was ein
vollständiger Brexit bedeuten würde, ist schon heute durch geltendes Recht
geregelt. Noch weiß niemand ganz genau, ob und wann das Vereinigte Königreich
den Austrittsantrag nach Artikel 50 des EU-Vertrages stellt – wenn überhaupt. Sollte jedoch der Brexit
in aller Konsequenz durchgeführt werden – wie von einigen Politikern gefordert
–, dann wäre Großbritannien tatsächlich ein „Drittstaat“ mit allen negativen Konsequenzen
auch für die deutsche Wirtschaft. Nur durch konstruktive Verhandlungen auf
politischer Ebene können jetzt weitreichende negative Folgen vermieden werden.
„Das Beharren auf Paragraphen und eine harte politische Linie gegenüber
Großbritannien ist gefährlich und gefährdet wirtschaftliches Wachstum und den Bestand
der EU in ihrer jetzigen Form“, sagt Andreas
Meyer-Schwickerath, Director & Member of the Board BCCG in Richtung
EU-Politiker.
Erste negative wirtschaftliche Folgen des Brexit zeichnen sich bereits
jetzt ab, denn die Verflechtung der Wirtschaftskraft von Großbritannien und
Deutschland ist ausgesprochen intensiv: Geschätzt gibt es etwa 2.500 deutsche
Unternehmen mit Betriebsstätten mit knapp 400.000 Beschäftigten in
Großbritannien sowie ca.
1.200 britische Unternehmen in Deutschland mit 220.000 Beschäftigten.
Drastische Folgen eines Brexits für die Wirtschaft
Die Folgen könnten drastisch sein: Die
Niederlassungsfreiheit für EU-Bürger in Großbritannien wäre nicht mehr gegeben
– und umgekehrt genauso. Im- und Export wären behindert, weil die EU-weit
gültigen Zulassungen für das Inverkehrbringen von Produkten in Großbritannien
ihre Gültigkeit verlieren. Banken und andere Finanzdienstleistungsunternehmen
mit bisher ausschließlicher Lizenz in Großbritannien würden den sog.
„EU-Passport“ verlieren und damit nicht mehr in der EU tätig sein dürfen. Der
wirtschaftliche Austausch – insbesondere im Bereich der Finanzindustrie und des
Online-Warenhandels – wäre auch dadurch erschwert, dass Großbritannien
datenschutzrechtlich als „unsicheres Drittland“ qualifizieren würde, in das
eine Übermittlung von Daten problematisch, ja sogar bußgeldbewehrt ist. Auch viele
Steuervergünstigungen wären obsolet. (Ausführliche
Beispiele im Anhang). Das sind nur einige wenige Beispiele für mögliche
Auswirkungen des Brexit. „Die derzeit noch völlig unklare Lage bedeutet nicht,
dass die Unternehmen gegenwärtig zum Abwarten verurteilt sind. Wir empfehlen jedem
Marktteilnehmer dringend, schon jetzt zu analysieren, inwieweit sein
Unternehmen durch den Brexit betroffen sein könnte. Nur so kann das Unternehmen
schnell auf alle Entwicklungen reagieren“, sagt Dr. Stefan Kraus, Luther Rechtsanwaltsgesellschaft, BCCG Council
Member & Honorary Legal Advisor.
EU Reformen sind
notwendig, um das Vertrauen der Bürger in die EU wiederzubeleben
Das Vertrauen in die Institutionen der EU, sowie in die Politik-Eliten allgemein, ist
deutlich gesunken. Das belegt auch eine repräsentative Umfrage, die die BCCG
bei FORSA Ende 2015 in Auftrag gegeben hat. Demnach spricht sich eine Mehrheit
der Deutschen sowohl für Reformen als auch für Referenden aus. Es besteht die
Gefahr, dass die politisch zentrifugalen Kräfte in anderen Mitgliedsländern
zunehmen. Die Hauptargumente der britischen Pro-Brexit-Kampagne werden auch
dort thematisiert:
-
Unruhe wegen hoher Immigration und geringem
Wachstum
-
der Wunsch nach größerer politischer
Eigenverantwortung
-
weitverbreitete Auffassung, dass die Eliten sich
von den Wählern entfernt haben.
-
Parteien am rechten und linken Spektrum nutzen
diese zunehmend für ihre Zwecke
„Der Brexit ist ein Warnschuss für die EU. Ihn zu ignorieren wäre mehr
als leichtfertig“, sagt Andreas
Meyer-Schwickerath.
BCCG spricht sich für
konstruktive Verhandlungen zwischen EU und UK aus
Zwei Ideen, auf den Brexit zu reagieren kursieren in EU-Kreisen:
Abschreckung oder Anstrengung. Einige Politiker und Meinungsführer wollen nun
an den Briten ein Exempel statuieren. Damit soll anderen EU-Staaten, die mit
einem Austritt liebäugeln gezeigt werden, dass ein Leben nach einem EU-Austritt
nur Nachteile mit sich bringt. Geht dies auf Kosten des freien Handels, nimmt
man freilich gegenseitige Selbstschädigung in Kauf. Statt auf Abschreckung zu
setzen, kann man indes auch die Attraktivität der EU steigern, um so weitere
Exits kostspieliger und unwahrscheinlicher zu machen.
„Konkret sollte die EU die Zeit nutzen, ‚Plan C‘ (C für Cameron) zu
verwirklichen und die im Februar mit Cameron ausgehandelten Reformen trotz
Brexit umzusetzen“, sagt Prof. Michael
Wohlgemuth von Open Europe Berlin. Folgende Möglichkeiten wurden damals
verhandelt:
à Flexible Integration: Die Bezugnahme in den EU-Verträgen auf den Prozess einer „immer
engeren Union“ sei vereinbar mit „verschiedenen Wegen der Integration für
verschiedene Mitgliedstaaten.“ „One-size-fits-all“ muss nicht das Grundprinzip
der EU sein. Das könnte in vielen EU-skeptischen Ländern die Angst vor
gleichmacherischer Bevormundung aus Brüssel zumindest mildern.
à Subsidiarität und
Demokratie: nationale Parlamente können mit einer
verbindlichen Subsidiaritätsrüge („rote Karte“) aus ihrer Sicht übergreifende
Rechtsakte verhindern.
à Freizügigkeit und
Sozialsysteme: Der Zugang von EU-Ausländern zu bestimmten
Sozialleistungen kann für eine Anfangszeit von einigen Jahren beschränkt
werden; Kindergeld muss nicht für Kinder bezahlt werden, die im Herkunftsland
bleiben.
à Fairness zwischen Euro-
und Nichteuro-Ländern: Weitere Schritte zur Vertiefung dürfen weder zu
einer Diskriminierung der Nicht-Eurostaaten führen, noch haften diese für
Rettungsschirme der Eurozone. Als Gegenleistung sollen Nicht-Eurostaaten die
von den Eurostaaten gewünschte Vertiefung nicht behindern.
à Wettbewerbsfähigkeit
und Binnenmarkt: Die Wettbewerbsfähigkeit und der europäische
Binnenmärkt sollen gestärkt werden. Gute Idee. Die Aussagen dazu, wie das
geschehen soll, sind allerdings vage. Der Verwaltungsaufwand und die
Befolgungskosten für kleine und mittlere Unternehmen sollen gesenkt werden.
Unnötige Rechtsvorschriften sollen aufgehoben werden. Weiterhin soll die EU
eine „aktive und ehrgeizige Handelspolitik“ betreiben. Das bedeutet wohl, an
der Umsetzung des TTIP-Abkommens zu arbeiten und weitere Freihandelsabkommen in
Angriff zu nehmen.
Die EU sollte die mit Premier Cameron verhandelten Punkte in weiten
Teilen als Reformagenda für die EU ohne Großbritannien umsetzen. Das Ziel dieser
Beschlüsse war ja, die Desintegration der EU zu verhindern. „Zugegeben: im Fall
der Briten hat das nicht gereicht. Aber jetzt noch weit hinter diese Reformen
für mehr Flexibilität, Subsidiarität, Fairness und Wettbewerbsfähigkeit
zurückzufallen, wäre töricht“, sagt Prof.
Michael Wohlgemuth.
Der Ausgang des Referendums zum
Brexit hat Auswirkungen auf alle Unternehmen, die einen Sitz oder eine
Niederlassung in einem EU-Staat haben und wirtschaftliche Leistungsbeziehungen
in den Bereichen Waren-, Personen-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehr mit dem
Vereinigten Königreich unterhalten. Im „Worst Case“ wären die potenziellen
Auswirkungen aber vielfältig und schwerwiegend:
à „EU-Passport“: Nach den
EU-Finanzmarktrichtlinien kommen bestimmte Kreditinstitute und
Finanzdienstleistungsunternehmen in den Genuss eines ‚Europäischen Passes‘,
d.h. diese Institute können die Zulassung in einem Mitgliedsstaat nach
Notifizierung auch für Dienstleistungen in anderen Mitgliedsstaaten nutzen.
Nach dem vollzogenen Brexit wird das Vereinigte Königreich in der
Finanzmarktregulierung wie ein Drittstaat behandelt. Dies hätte zur Folge, dass
Institute mit Sitz in dem Vereinigten Königreich in der Zukunft nicht mehr auf
Grundlage des Europäischen Passes‘ im Europäischen Wirtschaftsraum tätig werden
können. Denn außer der Richtlinie für Alternative Investmentfonds (AIFMD,
Richtlinie 2011/61/EU) sehen die EU-Finanzmarktrichtlinien für Unternehmen
außerhalb der EU keine Möglichkeit vor, eine EU-weite Lizenz zu erwerben.
à Warenverkehr: Derzeit noch völlig offen ist,
ob im Vereinigten Königreich erteilte Zulassungen für das Inverkehrbringen von
Produkten (etwa im Bereich Automobil, Arzneimittel, Maschinen etc.) für den
Vertrieb von Waren innerhalb der EU noch anerkannt werden oder ob hierfür neue,
zeitraubende Verfahren gestartet werden müssen. Spiegelbildlich gilt dies auch
für Ware, die in das Vereinigte Königreich exportiert werden soll und die ihre
Zulassung in einem der anderen EU-Staaten erhalten hat. Fraglich ist in dem
Zusammenhang etwa, ob das Vereinigte Königreich etwa künftig eine deutsche
CE-Kennzeichnung akzeptieren würde.
à Datenschutz: Das Vereinigte Königreich fällt
mit seinem Austritt aus der EU nicht mehr unter den Anwendungsbereich des
EU-Datenschutzrechts und gilt damit - wie auch die USA oder Indien - als
sogenannter unsicherer Drittstaat. EU-Unternehmen, die Daten in diese Staaten
übermitteln, müssen nachweisen, dass die Daten dort entsprechend den
europäischen Vorgaben angemessen geschützt werden. Wann ein angemessener Schutz
nachweisbar vorliegen soll, wird dabei seit der im Oktober 2015 ergangenen
Entscheidung des EuGH zum Datentransfer in die USA auf Grundlage von
„Safe-Harbour“ höchst strittig diskutiert. Unternehmen mit Sitz in der EU, die
Daten in das Vereinigte Königreich exportieren, werden jedenfalls ihre bereits
abgeschlossenen bzw. zu schließenden datenschutzrechtlichen Verträge mit
britischen Unternehmen anpassen müssen. Werden Datenübermittlungen vorgenommen,
obwohl ein angemessenes Datenschutzniveau im Zielstaat nicht garantiert ist,
drohen neben dem zu befürchtenden Imageverlust auch empfindliche Bußgelder
durch die Datenschutzaufsichtsbehörden.
à Gesellschaftsrecht: Das zentrale Problem im
Gesellschaftsrecht ist das Erlöschen der Niederlassungsfreiheit. Ohne deren
Fortbestehen werden künftig grenzüberschreitende Verschmelzungen, Formwechsel
und Spaltungen unter Beteiligung von britischen Gesellschaften nicht mehr
möglich sein. Auch verlieren dann Europäische Aktiengesellschaften mit Sitz im
Vereinigten Königreich ihre rechtliche Grundlage. Ohne entsprechende
Nachfolgeregelungen wird auch die bisher beliebte Gründung einer UK Ltd. mit
Verwaltungssitz in einem anderen EU-Mitgliedsstaat nicht mehr möglich sein bzw.
werden bestehende Gesellschaften dieser Art ihre Rechtsform ändern müssen.
à Steuerrecht: Auch im Steuerrecht sind die
potenziellen Auswirkungen des Brexits vielfältig. Betroffen sind etwa die
Vergünstigungen nach der Mutter-Tochter-Richtlinie (Richtlinie 90/435/EWG) in
Bezug auf Quellensteuer für Ausschüttungen im Konzern, soweit sie von oder an
britische Gesellschaften erfolgen. Hier gelten nach dem Brexit vorbehaltlich
abweichender Nachfolgeregelungen die entsprechenden Steuersätze nach dem
Doppelbesteuerungsabkommen (bis zu 5% statt 0%). Nach der Zins- und
Lizenzrichtlinie (Richtlinie 2003/49/EG) werden innerhalb der EU keine
Quellensteuern auf Zins- und Lizenzzahlungen an verbundene Unternehmen erhoben.
Auch hier finden nach dem Brexit die entsprechenden Regelungen in dem
Doppelbesteuerungsabkommen Anwendung. In allen Fällen, in denen britische
Kapitalgesellschaften zu einer Unternehmensgruppe gehören, sollten deshalb die
diesbezüglichen Strukturen für Dividenden und sonstige Zahlungen innerhalb der
Gruppe einer Überprüfung unterzogen werden.
Andreas Meyer-Schwickerath
British Chamber of Commerce in Germany (BCCG) e.V., Friedrichstr. 140, 10117 Berlin, E-Mail info@bccg.de